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    Großer Spielraum bei Verdachtsberichtserstattung - Gescheiterte Millionenklage gegen Süddeutsche

    Im Journalismus besteht ein besonderes grundrechtliches Spannungsverhältnis zwischen der Presse- und Meinungsfreiheit der berichterstattenden Presse einerseits sowie andererseits den Persönlichkeitsrechten derjenigen, über die berichtet wird. Insbesondere die Verdachtsberichterstattung steht dabei immer wieder im Fokus – gerade auch in Fällen mit wirtschaftlichem Bezug. Das hat zu einem ausführlichen Richterrecht über die Thematik geführt. Dennoch gibt es stets neue Fälle mit offenen Fragen. Wichtiges haben jüngst Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 704/18, 9.12.2020; dazu im nächsten Newsletter) und des Oberlandesgerichts Nürnberg (3 U 2445/18, 3.2.2021) geklärt. Beide stärken die freie Berichterstattung.

    Die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung ermöglichen der Presse, auch über solche eine Person betreffenden Umstände zu berichten, deren Wahrheit noch nicht mit Sicherheit feststeht. Anders könnte sie ihre verfassungsrechtlich verankerte Aufgabe der öffentlichen Meinungsbildung nicht erfüllen. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung müssen jedoch wesentliche Voraussetzungen erfüllt sein, damit die Pressefreiheit den Vortritt hat: Vor der Berichterstattung und ihrer Verbreitung sind zuerst hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt anzustellen. Weiterhin braucht es einen Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst den erforderlichen „Öffentlichkeitswert“ verleihen. Die Darstellung darf zudem den Betroffenen nicht vorverurteilen, sie darf also nicht den Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Vor der Veröffentlichung ist der Betroffene außerdem regelmäßig zu befragen. Nicht zuletzt muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit rechtfertigt (so der BGH im Urteil vom 18.6.2019, VI ZR 80/18).

    Die von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen hatte die Süddeutsche Zeitung bei einer Berichterstattung über einen Solarunternehmer allesamt eingehalten, bescheinigte das OLG Nürnberg in seiner aktuellen Entscheidung (vgl. dazu den Bericht der SZ vom 5. Februar 2021, S. 23). Die Zeitung hatte 2013 im Zusammenhang mit dem Verdacht des Insiderhandels über den Mitbegründer, Großaktionär und Mitglied des Aufsichtsrats, Herrn K, der in Erlangen ansässigen S. M. AG, einem inzwischen insolventen Solarunternehmen, berichtet. Das griff der Tages-Anzeiger (eine in der Schweiz weit verbreitete Zeitung aus Zürich) auf und berichtete über den möglicherweise illegalen Insiderhandel. So erfuhr ein Geschäftspartner des Unternehmers von dem Verdacht. Er beendete daraufhin Verhandlungen über eine Investition in ein Kraftwerk in Indien. Angeblich ging dem Unternehmer bzw. dem Solarunternehmen damit ein riesiges Geschäft verloren. Deswegen verklagte er die Süddeutsche und zwei ihrer Journalisten auf 78,4 Millionen Euro entgangenen Gewinns.

    Nachdem die Klage in der ersten Instanz abgewiesen worden war, hatte auch die Berufung vor dem OLG Nürnberg keinen Erfolg: Ein pflichtwidriges oder rechtswidriges Verhalten der beklagten Journalisten und der Zeitung habe nicht vorgelegen; vielmehr hätten sie alle Voraussetzungen einer zulässigen Verdachtsberichterstattung eingehalten. Wie der Tages-Anzeiger die Situation dargestellt habe und dass der Unternehmer dort eventuell vorverurteilt wurde, sei der Süddeutschen nicht anzulasten, meinte das Gericht. Die beiden Artikel seien inhaltlich zu verschieden, um einen Zurechnungszusammenhang herzustellen.

    Worin ging es im Fall und in der Berichterstattung? Am (Donnerstag) 4. März 2010 hatte eine Aufsichtsratssitzung des Solarunternehmens stattgefunden. An der nahmen u.a. der jetzige Kläger und der damalige Vorstandsvorsitzende des Solarunternehmens, Prof. Dr. U. C, teil. Der Kläger ließ nach den Feststellungen des Gerichts am 8. März 2010 von ihm wenige Monate vorher privat abgeschlossene Call- und Put-Optionen über Aktien des Solarunternehmens mit Gewinn schließen. Diese wären ohnehin zehn Tage später ausgelaufen. Der Basispreis der Optionsgeschäfte lag bei € 26. Das löste den Argwohn hinsichtlich eines möglichen Insidergeschäfts aus. Der Aktienkurs lag am Tag des Geschäfts über € 29. Eine Woche später trat der Vorstandsvorsitzende der AG zurück. Der Aktienkurs fiel von € 29 auf € 21. Ein Jahr später wurde über das Vermögen der AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Süddeutsche schrieb dazu am 25. Juni 2013 unter der Überschrift „Wetten auf den Absturz“. Sie berichtete u.a., bereits in der Aufsichtsratssitzung vom 4. März 2010 habe sich abgezeichnet, dass der Vorstandsvorsitzende sein Amt niederlegen werde. Unter Hinweis auf die zeitliche Abfolge wirft der Artikel die Frage auf, ob die Geschäfte am 8. März auf die Ausnutzung von Insiderwissen zurückzuführen seien; zudem heißt es da, dass - sollte dies der Fall sein - sogar eine strafbare Handlung vorliegen könnte. Die Zeitung gab im Artikel die Stellungnahme des Rechtsanwalts des Klägers wörtlich wieder.

    Das OLG meint, bereits aus den objektiven Umständen dränge sich die Frage geradezu auf, weshalb K - anders als bei der Eröffnung der Optionsgeschäfte und in der Folgezeit - nunmehr davon ausgegangen sei, dass sich in den nächsten zwei Wochen die bisherige Entwicklung des Aktienkurses der AG nicht fortsetzen werde. Diese beruhte nach dem offenbar übereinstimmenden Parteivortrag zum wesentlichen Teil auf dem Vorstandsvorsitzenden. Eine naheliegende Antwort sei ein Informationsvorsprung aus der Aufsichtsratssitzung hinsichtlich eines kurzfristig eintretenden, relevanten Ereignisses – d.h. des Rücktritts von Prof. Dr. U. C. vom Vorstandsvorsitz. Insgesamt habe es daher hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Berichterstattung gegeben.

    Zudem bejaht das Gericht ein entsprechendes Informationsbedürfnis der Allgemeinheit. Schon damals sei die Öffentlichkeit für die Ausnutzung von Insiderwissen für eigene wirtschaftliche Vorteile und hinsichtlich deren Strafwürdigkeit sensibilisiert gewesen. Das verleihe solchen Vorgängen generell einen Nachrichtenwert. Die Insolvenz der S. M. AG habe für zahlreiche Anleihegläubiger und Aktionäre zu erheblichen Verlusten geführt. Wie es dazu kommen konnte und ob sich Organwalter bereichert hätten, sei daher von enormer Öffentlichkeitsrelevanz.

    Auch ausreichend tiefgehende Recherchen sowie die notwendige Distanz und Ausgewogenheit bestätigt das OLG Nürnberg der Süddeutschen. Der Artikel begann und endete zwar mit einer plakativen Schilderung des Lebensstils des Klägers auf einem weitläufigen Landsitz in Südengland und erinnerte an gegen ihn anhängige Ermittlungsverfahren. So habe die Zeitung einen merklichen Kontrast zwischen dem Luxusleben des Klägers und der Insolvenz der AG gezeichnet. Dies sei jedoch eine im Journalismus geradezu typische Einbettung, die keine entscheidende Prägung des Gesamtbilds bewirkt habe. Die Süddeutsche hatte außerdem Kontakt zum Kläger aufgenommen und ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben. An keiner Stelle habe die Zeitung den Eindruck erweckt, es sei bereits erwiesen, dass die Schließung der Optionsgeschäfte verbotener Insiderhandel gewesen sei. Vielmehr habe sich der Bericht auf die Feststellung beschränkt, dass die Umstände solche Vermutungen nahelegen.

    Wie sicher sich das Oberlandesgericht in seiner Beurteilung ist, zeigt sich daran, dass es die Berufung durch einstimmigen Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen hat, weil diese „offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat“ (§ 522 Absatz 2 ZPO). Ob der Kläger dennoch Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH eingelegt hat, ist noch nicht bekannt.

    Der Beschluss des OLG Nürnbergs ist u.E. auch in seiner Deutlichkeit zum Schutz der Pressefreiheit erforderlich. Ein anderer Ausgang hätte zur Folge gehabt, dass kritische und investigative Wirtschaftsberichterstattung nicht mehr möglich wäre. Durch eine Möglichkeit derartiger Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe müssten Journalisten und Verlage stets Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin haben. Um die Interessen – insbesondere den Ehrschutz – der im Zentrum der Berichterstattung stehenden Personen ausreichend zu gewährleisten, stehen gerade die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung zur Verfügung. Dass diese im Einzelfall zu interessengerechten Ergebnissen führen, zeigt das OLG Nürnberg.

    Maike Mestmäcker / Dr. Thomas Heidel

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 3/21

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