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    MUSTERFESTSTELLUNGSKLAGE verabschiedet

    Der Deutsche Bundestag hat am 14.06.2018 das Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage verabschiedet. Damit wird Verbrauchern in Massenschadensfällen die Durchsetzung ihrer Rechte gegen Unternehmen erleichtert. Bei sogenannten „Bagatell- oder Streuschäden“ (etwa wegen verspäteter Zinsgutschriften oder unberechtigter Bearbeitungsgebühren von Banken oder überhöhter Strom-/Gasabrechnungen durch Energieversorger) wurden in der Vergangenheit viele Verbraucher davon abgehalten, individuell geringe Schadensersatzforderungen geltend zu machen. Denn der Aufwand und vor allem die Kosten standen außer Verhältnis zum möglichen Ergebnis eines Prozesses. Damit soll jetzt Schluss sein.

    Es gab jahrelangen Streit um Notwendigkeit und Ausgestaltung einer solchen Klagemöglichkeit. Große Wirtschaftsverbände wollten die Klage verhindern, indem sie das Schreckgespenst einer „Klageindustrie“ an die Wand malten. Jetzt kam durch den Diesel-Abgasskandal der Durchbruch: Weil die Informationen über betrügerische Abgassoftware von VW im Jahr 2015 bekannt wurden, werden die meisten Ansprüche gegen VW Ende des Jahres 2018 verjähren, wenn die Geschädigten nichts unternehmen. Deswegen wurde die Musterfeststellungsklage trotz vieler ungeklärter Einzelfragen jetzt beschlossen. Das Gesetz tritt zum 1.11.2018 in Kraft, damit noch vor Jahresende Musterklagen gegen VW erhoben werden können, an denen sich dann Tausende von Geschädigten ohne Kostenrisiko beteiligen können.

    Bereits seit dem Jahr 2005 gibt es für den speziellen Bereich von Kapitalanlageschäden die Möglichkeit eines Musterverfahrens nach dem „Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz“ (KapMuG). Dieses hat für die betroffenen Kapitalanleger den Vorteil, dass jeder einzelne Geschädigte im Rahmen einer von ihm erhobenen Klage nach diesem Gesetz einen Musterfeststellungsantrag stellen und damit ein Massenverfahren anstoßen kann. Das KapMuG hat zugleich aber den gravierenden Nachteil, dass es für weitere Geschädigte keine Möglichkeit zur kostenlosen Hemmung der Verjährung bietet.

    Diese Möglichkeit der kostenlosen Verjährungshemmung eröffnet jetzt die neue Musterfeststellungsklage. Sie gilt außerdem für alle möglichen Schadensfälle. Allerdings kann sie nicht von einem einzelnen geschädigten Verbraucher erhoben werden, sondern nur von bestimmten sogenannten „qualifizierten Einrichtungen“. Diese müssen neben weiteren Voraussetzungen bereits seit mindestens vier Jahren als Verbraucherschutzorganisation registriert sein. Es handelt sich also um eine Verbandsklage, sodass sich die geschädigten Verbraucher an einen der etablierten Verbraucherschutzverbände (Verbraucherzentralen, Mietervereine etc.) wenden müssen. Sobald dies in einem Massenschadensfall durch mindestens zehn Verbraucherinnen und Verbraucher geschieht, kann der Verband die Klage einreichen. Diese wird dann in dem beim Bundesamt für Justiz geführten Klageregister eingetragen. Die Eintragung wird auch im Internet veröffentlicht. Jeder geschädigte Verbraucher kann sich dort anmelden, um an dem Verfahren teilzunehmen. Eine Anmeldung und Teilnahme ist aber für einen Geschädigten nicht zwingend. Auch ein etwaig schon laufender Prozess eines Geschädigten gegen den Unternehmer wird bei Eröffnung eines Musterfeststellungsprozesses nicht von Amts wegen ausgesetzt (sondern nur, wenn er seine Ansprüche zusätzlich in dem Musterprozess anmeldet). Wer also als Geschädigter lieber isoliert gegen den Unternehmer klagen will, kann dies tun, trägt dafür aber auch das volle Kostenrisiko und profitiert nicht an den Ergebnissen des Musterverfahrens. Wer sich angemeldet hat, sich aber später gegen die Teilnahme entscheidet, kann seine Anmeldung zurücknehmen. Dies ist allerdings nur in der ersten Instanz möglich und spätestens bis zum Ablauf des Tages, an dem die mündliche Verhandlung vor Gericht begonnen hat.

    Die zentrale Wirkung der Anmeldung ist, dass auf diese einfache und kostenlose Art und Weise die Verjährung der Ansprüche des Verbrauchers gegen das beklagte Unternehmen gehemmt wird. Der Geschädigte kann diese Anmeldung selbst vornehmen und muss dafür keinen Anwalt einschalten. Melden sich innerhalb von zwei Monaten mindestens 50 Verbraucher an, wird das Verfahren tatsächlich durchgeführt. Zuständig hierfür sind wegen der großen Bedeutung derartiger Verfahren bereits in erster Instanz die Oberlandesgerichte. Der Vorteil für die angemeldeten Verbraucher ist, dass das Ergebnis des Verfahrens, gleichgültig ob Urteil oder Vergleich, für alle teilnehmenden Verbraucher sowie das beklagte Unternehmen bindend ist. Für das Rechtssystem hat das Musterfeststellungsverfahren den Vorteil, dass über die grundlegenden Fragen eines Massenschadensfalles in einem Prozess entschieden werden kann. Viele parallele Prozesse mit möglicherweise widersprüchlichen Ergebnissen können so vermieden werden. Denn es ist nicht zu erwarten, dass neben einem eingeleiteten Musterverfahren noch viele geschädigte Verbraucher auf eigene Kosten isoliert Einzelprozesse führen werden. Dies stärkt den Rechtsfrieden und schont die Ressourcen der Justiz.

    Aus Verbrauchersicht hat das Verfahren aber auch Nachteile. So dient es nur dazu, für alle Geschädigten gleichermaßen bedeutsame tatsächliche und rechtliche Fragen zu dem Schadensfall zu klären (anders als etwa die „Sammelklage“ in den USA). Damit steht aber noch nicht fest, was der einzelne Geschädigte am Ende als Schadensersatz erhält. Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen also nach Beendigung des Musterverfahrens ihre jeweiligen individuellen Schäden gesondert einfordern. Dies ist dann doch wiederum mit Aufwand und einem Kostenrisiko verbunden. Gleichwohl stellt die Musterfeststellungsklage für sie einen großen Fortschritt dar, da das beklagte Unternehmen nach grundsätzlicher Feststellung seiner Schadensersatzpflicht in dem Musterverfahren die einzelnen teilnehmenden Verbraucher in der Regel eher „freiwillig“ entschädigen dürfte. Denn im Verhältnis zu dem einzelnen Geschädigten sind nur noch die konkrete Höhe des jeweiligen Schadens und etwaige Besonderheiten des Einzelfalls (etwa mögliche steuerliche Effekte) zu berücksichtigen.

    Ein weiterer Kritikpunkt an dem Gesetz ist, dass es nur für Verbraucher gilt. Es wäre zu begrüßen gewesen, wenn sich auch Unternehmer, die in Massenschadensfällen als Kunden negativ betroffen sein können (etwa Kleinselbständige), an dem Verfahren beteiligen könnten. Diese Möglichkeit besteht nicht. Vielmehr wurde für Nichtverbraucher als Minimallösung nur ein neuer Abs. 2 in § 148 der Zivilprozessordnung aufgenommen, wonach ein Unternehmer, der bereits individuell gegen das schädigende Unternehmen geklagt hat, die Aussetzung seines Verfahrens bis zur Beendigung des Musterfeststellungsverfahrens beantragen kann. Damit kann er dessen Ergebnis im positiven Fall später in seinem eigenen Prozess vortragen. Eine Bindungswirkung der Musterklage besteht zu seinen Gunsten, anders als für die teilnehmenden Verbraucher, aber nicht.

    Trotz dieser verbliebenen Mängel ist durch die Musterfeststellungsklage nunmehr auch in Deutschland endlich eine Möglichkeit geschaffen worden, mit der geschädigte Verbraucher in Massenschadensfällen vereinfacht und kostengünstig Schadensersatzforderungen durchsetzen können. Durch die Möglichkeit einer kostenlosen Verjährungshemmung kann vielen Verbrauchern die Scheu genommen werden, ihre Rechte zu wahren. Zugleich werden unnötige Parallelverfahren vermieden und damit die Justiz entlastet und die Rechtssicherheit erhöht.

    Insgesamt lässt sich deshalb sagen: Der 14.06.2018 war ein guter Tag für Verbraucher und den Rechtsstandort Deutschland.

    Dr. Gerd Krämer

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 6/18

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