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    Was weiß die Aktiengesellschaft?

    Eine Aktiengesellschaft weist einen Vertragspartner nicht auf ein bestimmtes Risiko hin, obgleich sie dies hätte tun müssen - sofern sie denn um das Risiko wusste. Aber was genau weiß die Aktiengesellschaft? Muss sie sich z.B. auch Wissen zurechnen lassen, das ein einzelner Mitarbeiter oder ein Organmitglied aus einem Aufsichtsratsmandat bei einem anderen Unternehmen erlangt, aber für sich behalten hat?

    Juristische Personen wie Aktiengesellschaften sind darauf angewiesen, dass natürliche Personen für sie handeln - sei es als Mitglied des Vorstands oder Aufsichtsrats oder als Mitarbeiter unterhalb der Organebene. „Wissen“ kann die juristische Person im Grundsatz nur, was diese natürlichen Personen wissen. Die Frage ist: Was ist ihr vom Wissen dieser natürlichen Personen als eigenes Wissen zuzurechnen? Diese Zurechnungsfrage ist in vielen Details noch nicht endgültig geklärt. Eine neue Entscheidung des BGH (Urteil vom 26. April 2016, Az.: XI ZR 167/15) bringt nun für einen wichtigen Teilaspekt einen Zuwachs an Rechtssicherheit.

    Früher ging die Rechtsprechung davon aus, dass jedenfalls das Wissen eines Mitglieds des Leitungsorgans einer juristischen Person (AG-Vorstand, GmbH-Geschäftsführer) der juristischen Person sozusagen „automatisch“ vollständig zuzurechnen ist. In der Folge hat sich aber ein differenzierterer Ansatz durchgesetzt, der auf Organisationgesichtspunkte abstellt. Maßgeblich ist, ob es sich um Wissen von Organmitgliedern oder Mitarbeitern handelt, das bei ordnungsgemäßer Organisation intern erfasst und weitergegeben bzw. abgefragt worden wäre. Neben vielen anderen Detailfragen war insoweit bislang nicht höchstrichterlich geklärt, ob unter dem Gesichtspunkt der Organisationspflicht Wissen zugerechnet werden kann, das Mitarbeiter oder Organmitglieder der Gesellschaft erlangt haben, weil sie in einer anderen Gesellschaft eine Organfunktion wahrnehmen. Doppelmandate sind z.B. in Konzernstrukturen weit verbreitet, aber nicht darauf beschränkt. In dem vom BGH entschiedenen Fall hatte z.B. ein Prokurist (P) einer Direktbank (D AG) ein Aufsichtsratsmandat bei einem Wertpapierhandelshaus (W AG) wahrgenommen, mit dem die D AG kooperierte. Der geschädigte Kunde hatte bei der D AG auf Vermittlung der W AG ein Konto mit Wertpapierdepot eröffnet. In der Folge tätigte der Kunde auf telefonische Beratung der W AG verschiedene Wertpapierkäufe, die zu Verlusten führten. Nachdem W AG in Insolvenz geraten war, verlangte er Schadensersatz von D AG. Diese hätte ihn - als Nebenpflicht zum Kontoführungs- und Depotvertrag - frühzeitig darauf hinweisen müssen, dass die W AG ihre Kunden systematisch fehlberate. Über diese Fehlberatung sei die D AG auch informiert gewesen, weil ihr Prokurist P davon als Aufsichtsratsmitglied der W AG Kenntnis erhalten habe.

    Der BGH hat eine Wissenszurechnung unter den konkreten Umständen des Falles allerdings verneint. Da P das als Aufsichtsrat der W AG erlangte Wissen nicht weitergegeben habe, hätte eine Warnpflicht der Beklagten D AG nur ausgelöst sein können, wenn das Wissen des P der Beklagten auch ohne tatsächliche Weitergabe zugerechnet werden könnte. Einer solchen Zurechnung stehe aber die Verschwiegenheitspflicht des P als Aufsichtsratsmitglied der W AG aus § 116 S. 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 S. 3 AktG entgegen. Die gesetzliche Verschwiegenheitsverpflichtung müsse absolut gelten, damit gewährleistet ist, dass der Aufsichtsrat seine gesetzliche Überwachungs-Beratungsfunktion erfüllen könnte, da diese das notwendige Korrelat zu den umfassenden Informationsrechten des Aufsichtsrats bilde. Der Vorstand könne den Aufsichtsrat nur dann frühzeitig über sensible Vorfälle, Daten und Vorhaben informieren, wenn er nicht mit der sofortigen Weitergabe – etwa das finanzierende Kreditinstitut oder die Hausbank – und damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteilen für das Unternehmen rechnen müsse. Daher scheide für solche Umstände, die unter die Verschwiegenheitspflicht fallen und durch deren Weitergabe das Aufsichtsratsmitglied seine Schweigepflicht verletzen würde, eine Wissenszurechnung von vornherein aus. Auch eine Kollision der Pflichten als Aufsichtsratsmitglieds und als Arbeitnehmer (oder Organmitglied) einer anderen Gesellschaft rechtfertige eine Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht nicht. Der Gesetzgeber habe gesehen, dass die - meist nebenberuflich ausgeübte - Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied in ein Spannungsfeld zu anderen Pflichten geraten könne und insoweit zu Gunsten der Verschwiegenheitspflicht gegenüber der Aktiengesellschaft, für die das Aufsichtsratsmandat wahrgenommen werden, entschieden.

    Darin liegt eine wichtige Klarstellung für alle Personen, die neben der Tätigkeit als Mitarbeiter oder Organmitglied einer Gesellschaft noch ein Aufsichtsratsmandat für eine andere Gesellschaft wahrnehmen. Denn man wird aus dieser Weichenstellung zugleich schließen müssen, dass eine Person, die sich an ihre Verschwiegenheitspflicht als Aufsichtsratsmitglied bei der einen Gesellschaft hält, gegenüber der anderen Gesellschaft, für die sie als Organmitglied oder auf Basis eines Anstellungsvertrages tätig ist, nicht schadensersatzpflichtig machen kann. Weitere Fragen sind aber nach wie vor ungeklärt. Dies gilt etwa für die Frage, ob die gleichen Grundsätze gelten, wenn zwischen den beteiligten Gesellschaften (anders als im entschiedenen Fall) gesellschaftsrechtliche Verbindungen oder ein (faktisches oder vertragliches) Konzernverhältnis bestehen. Auch hier wird man aber jedem Aufsichtsratsmitglied, das sich die Frage stellt, ob es in dieser Eigenschaft erlangte Information weitergeben darf oder gar muss, schon mit Rücksicht auf die Strafbewehrung der Verschwiegenheitspflicht (§ 404 AktG) zur Vorsicht und gegebenenfalls auch zur Einholung von Rechtsrat raten müssen.

    Dr. Sebastian Schödel

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 8/16

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