Meilicke Hoffmann und Partner - Anwaltskanzlei Bonn

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    Wichtige Änderungen der EMRK durch Inkrafttreten des 15. Zusatzprotokolls zur EMRK

    Bereits im Jahr 2013 haben die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats das 15. Zusatzprotokoll (nachfolgend „Zusatzprotokoll“) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschiedet, das einige Änderungen mit sich bringt, insbesondere eine Verkürzung der Klagefrist für Menschenrechtsbeschwerden von sechs auf vier Monate. In Kraft getreten ist das Zusatzprotokoll aber erst acht Jahre später, am 1. August 2021, nachdem es von allen 47 Mitgliedsstaaten ratifiziert worden ist. Was genau sich geändert hat und insbesondere ab wann und für welche Entscheidungen die verkürzte Klagefrist gilt, ist Thema dieses Beitrages.

    Das Zusatzprotokoll hat neun Artikel. Die materiellen Änderungen finden sich in den Artikeln 1 bis 5. Sie werden ergänzt von den Artikeln 6 bis 9, die Schluss- und Übergangsbestimmungen enthalten. Die einzelnen Änderungen sind – mit Ausnahme der Änderung der Klagefrist – mit Inkrafttreten des Zusatzprotokolls am 1. August 2021 wirksam geworden.

    Artikel 4 – Verkürzung der Klagefrist des Artikel 35 Abs. 1 EMRK von 6 auf 4 Monate

    Die wichtigste Änderung findet sich in Artikel 4, der Artikel 35 Abs. 1 EMRK insoweit ändert, als dass die darin genannte Frist für eine Menschenrechtsbeschwerde von sechs auf vier Monate herabgesetzt wird.

    Nach Artikel 8 Abs. 3 des Zusatzprotokolls, tritt Artikel 4 erst „nach Ablauf eines Zeitabschnitts von sechs Monaten nach dem Inkrafttreten dieses Protokolls in Kraft“. Die neue viermonatige Frist gilt also erst ab dem 1. Februar 2022. Zum anderen findet die verkürzte Klagefrist keine Anwendung auf „Beschwerden, bei denen die endgültige Entscheidung im Sinne des Artikels 35 Absatz 1 der Konvention vor dem Inkrafttreten des Artikels 4 dieses Protokolls ergangen ist“. Wenn also die letztinstanzliche innerstaatliche Gerichtsentscheidung, die mit einer Menschenrechtsbeschwerde angegriffen werden soll, bis zum 31. Januar 2022 ergangen ist, dann gilt die ursprüngliche sechsmonatige Frist. Letztinstanzliche Gerichtsentscheidungen, die ab dem 1. Februar 2022 ergehen, müssen innerhalb der viermonatigen Frist angegriffen werden.

    Diese Fristverkürzung wurde zum einen mit der Verbesserung der üblichen Kommunikationstechnologien begründet. Zum anderen wollte man eine Annäherung an die Beschwerdefristen der Mitgliedstaaten erreichen. In Anbetracht der einmonatigen Frist nach § 93 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde ist die Frist aus der EMRK trotzdem noch recht großzügig bemessen – dennoch muss man die Verkürzung zwingend kennen und beachten, damit die Beschwerde nicht als unzulässig abgewiesen wird.

    Artikel 1 – Änderung der Präambel

    Artikel 1 des Zusatzprotokolls ändert die Präambel der EMRK dahingehend ab, dass dort nun erstmals das Subsidiaritätsprinzip sowie die „margin of appreciation“-Doktrin erwähnt werden. Das Subsidiaritätsprinzip bringt die Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten des Europarates – also der internationalen Organisation, zu denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gehört – zum Ausdruck. Die vom EGMR entwickelte „margin of appreciation“-Doktrin sagt dagegen aus, dass den Mitgliedsstaaten bei der Anwendung und Umsetzung der EMRK ein Beurteilungsspielraum zukomme. Denn der EGMR geht davon aus, dass es im Einzelfall mehrere verschiedene staatliche Maßnahmen geben kann, die im Einklang mit der EMRK stehen. Daraus eine Maßnahme auszuwählen, soll den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben, da sie näher am Geschehen sind und die jeweiligen Situationen daher auch besser einschätzen können – dies macht sodann den Beurteilungsspielraum der Mitgliedsstaaten aus. Diese Prinzipien waren auch schon vor der Aufnahme in die Präambel anerkannt. Ob die Ergänzung der Präambel nun tatsächliche Auswirkungen haben wird oder nur symbolischen Charakter hat, wird die Zukunft zeigen.

    Artikel 2 – Änderung der Artikel 21 und 23 EMRK

    Artikel 2 des Zusatzprotokolls bringt Änderungen für die Altersgrenze der Richter mit sich. In Artikel 21 EMRK wird ein neuer Absatz 2 eingefügt, der aussagt, dass Kandidierende für das Richteramt am EGMR künftig jünger als 65 Jahre alt sein müssen. Zuvor galt für die Ausübung des Richteramtes gem. Artikel 23 Abs. 2 EMRK ein Höchstalter von 70 Jahren, welches nun gestrichen und durch das Höchstalter für die Kandidatur ersetzt wird. Die Richterinnen und Richter absolvieren ihr Amt sodann für die volle Amtsdauer gemäß Artikel 23 Abs. 1 EMRK von neun Jahren und scheiden nicht mehr automatisch mit Erreichung des 70. Lebensjahres.

    Artikel 3 – Änderung des Artikel 30 EMRK

    Artikel 3 des Zusatzprotokolls ändert Artikel 30 EMRK dahingehend, dass das Widerspruchsrecht der Parteien gegen die Abgabe einer anhängigen Rechtssache von der üblichen Kammer – bestehend aus fünf Richtern – an die Große Kammer des EGMR, welche aus 17 Richtern besteht, entfällt. Bisher war eine solche Abgabe nicht möglich, wenn eine der an dem Verfahren beteiligten Parteien dies nicht wollte. Es geht dabei um Verfahren, die schwerwiegende Fragen aus dem Bereich der EMRK zum Gegenstand haben oder deren Entscheidung von einem früheren Urteil des EGMR abweichen kann. Diese Neuregelung bezweckt, eine verbesserte Kohärenz der Rechtsprechung des EGMR zu erreichen. Falls in einem bereits vor Inkrafttreten des Zusatzprotokolls anhängigen Rechtstreit gegen die Abgabe widersprochen wurde, bleibt dieser Widerspruch wirksam.

    Artikel 5 – Änderung des Artikel 35 Abs. 3 EMRK

    Artikel 5 des Zusatzprotokolls ändert schließlich Artikel 35 Abs. 3 lit. b) EMRK, wonach der EGMR eine Beschwerde als unzulässig abweisen kann, wenn der Beschwerdeführer keinen erheblichen Nachteil erlitten hat. Damit dient die Regelung der Filterung der den Gerichtshof erreichenden Beschwerden, da diese immer weiter ansteigen. Bisher setzte die Abweisung einer Beschwerde als unzulässig voraus, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, die Achtung der Menschenrechte keine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde erfordert und die Rechtssache von einem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft wurde. Die letzte Voraussetzung entfällt nun aufgrund der durch das Zusatzprotokoll vorgegebenen Änderungen. Das bedeutet, dass eine Menschenrechtsverletzung ohne erheblichen Nachteil auch dann nicht zur Entscheidung angenommen wird, wenn die innerstaatlichen Gerichte die Angelegenheit nicht gebührend geprüft haben. Damit kann Beschwerdeführern bei nicht erheblichen Nachteilen ein effektiver Rechtsschutz unter bestimmten Voraussetzungen vollkommen versagt werden. Das ist rechtspolitisch bedenklich, aber offenbar der Vielzahl an Verfahren geschuldet, mit denen der EGMR jedes Jahr befasst wird.

    Dr. Moritz Beneke

    Philipp Trapp wiss.Mit.

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 10/21

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