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    Zur Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern wegen unterlassener Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen frühere Vorstandsmitglieder ("Arcandor")

    Das LG Essen hatte sich unlängst mit der Frage zu befassen, unter welchen Voraussetzungen Aufsichtsratsmitglieder für die unterlassene Geltendmachung möglicher Schadensersatzansprüche gegen (ehemalige) Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft haften.



    Dem Urteil des Landgerichts Essen vom 25.04.2012, Az.: 41 O 45/10 (nicht rechtskräftig), liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger nimmt als Insolvenzverwalter der Arcandor AG "in einem der größten Schadenersatzprozesse der deutschen Wirtschaftsgeschichte" (Jahn, FAZ vom 14.04.2011) mehrere ehemalige Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Gesellschaft gemäß §§ 93, 116 AktG auf Schadenersatz wegen Verletzung ihrer organschaftlichen Pflichten in Anspruch. Die gerügten Pflichtverletzungen stehen sämtlich mit einer Reihe zweifelhafter Sale-and-lease-back-Transaktionen über Warenhäuser in den Jahren 2001 und 2002 in Zusammenhang.



    Der Aufsichtsrat der Arcandor AG erörterte später die Frage, ob die seinerzeit amtierenden Vorstandsmitglieder wegen möglicher Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit den Sale-and-lease-back-Transaktionen gemäß § 93 AktG in Anspruch zu nehmen seien. Auf der Grundlage dreier juristischer Gutachten des Professors N., eines allgemein anerkannten Aktienrechtsexperten, der Stellungnahme einer Investmentbank und einer weiteren Stellungnahme der Rechtsabteilung der Arcandor AG beschloss der Aufsichtsrat, keine Schadenersatzansprüche gegen die seinerzeitigen Vorstandsmitglieder geltend zu machen. Der klagende Insolvenzverwalter ist der Auffassung, dass dieses Unterlassen pflichtwidrig gewesen sei und nimmt die an der Entscheidung beteiligten Aufsichtsratsmitglieder nun ihrerseits nach §§ 116, 93 AktG auf Schadenersatz in Anspruch, nachdem die möglichen Schadenersatzansprüche gegen die an den Immobilien-Transaktionen beteiligten Vorstandsmitglieder inzwischen verjährt sind.



    Das LG Essen hat die Klage (insoweit) abgewiesen. Ob vor Eintritt der Verjährung tatsächlich Schadenersatzansprüche gegen die seinerzeitigen Vorstandsmitglieder bestanden, lässt das Gericht dahinstehen. Jedenfalls stelle die unterlassene Geltendmachung möglicher Regressansprüche in unverjährter Zeit keine schuldhafte Verletzung organschaftlicher Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder dar. Die Entscheidung des seinerzeitigen Aufsichtsrats, von der Geltendmachung dieser Ansprüche abzusehen, sei nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. Ob sich die Entscheidung bei einer Betrachtung ex-post im Ergebnis als richtig erweise, sei irrelevant. Entscheidend sei allein, ob die Beklagten in der damaligen Situation (d.h. ex-ante) richtig gehandelt hätten, wobei zu berücksichtigen sei, dass sie eine Prognose-Entscheidung zu treffen gehabt hätten. In dieser Situation sei von ihnen zu fordern gewesen, dass



    • sie das "Für-und-Wider" des Regresses für die Gesellschaft abwägen,



    • sich hierzu kompetenten Rat einholten, der nicht kritiklos übernommen werden durfte



    und



    • davon ausgehend eine aus damaliger Sicht vertretbare Entscheidung trafen, die keinesfalls von persönlichen Gründen getragen sein durfte.



    Diese Voraussetzungen haben die Beklagten nach Auffassung des LG Essen erfüllt, weil sie sich gleich drei Rechtsgutachten des im Aktienrecht bewanderten und gut reputierten Professors N. eingeholt und diese in Aufsichtsratssitzungen eingehend diskutiert und ausgewertet hätten. Aus den Sitzungsprotokollen ergebe sich, dass die Aufsichtsratsmitglieder die Gutachten nicht kritiklos übernommen hätten, ohne sich damit selbst auseinanderzusetzen. Alle Beklagten hätten in der entscheidenden Sitzung Fragen bzw. Anmerkungen zu den gutachterlichen Feststellungen angebracht. Den Beklagten habe ferner das Schreiben einer Investmentbank vorgelegen, dem zufolge negative Auswirkungen auf den Börsenkurs der Gesellschaft und auf Kapitalgeber infolge einer öffentlichkeitswirksamen Geltendmachung von Regressansprüchen nicht ausgeschlossen werden konnten. Schließlich habe auch die Rechtsabteilung des Konzerns empfohlen, von einer Geltendmachung der möglichen Regressansprüche abzusehen und die Frage der Aufsichtsratsmitglieder, ob denn diesbezüglich auch alles umfassend und abschließend geprüft und geklärt worden sei, bejaht. Die in den Gutachten und Stellungnahmen gegen eine Inanspruchnahme der ehemaligen Organmitglieder angeführten Gründe, hält die Kammer für nachvollziehbar. Unter diesen Umständen sieht die Kammer nicht, was die Aufsichtsratsmitglieder weiter zur Absicherung ihrer Entscheidung hätten tun können.



    Praxishinweis: In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes geht das LG Essen davon aus, dass den Aufsichtsratsmitgliedern bei ihrer Entscheidung über die Geltendmachung oder Nichtgeltendmachung möglicher Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen (frühere) Vorstandsmitglieder kein echter unternehmerischer Ermessenspielraum i.S.d. "Business Judgement Rule" zusteht. Dennoch billigt das LG Essen ihnen einen "gewissen Beurteilungsspielraum" zu und unterwirft ihre Entscheidung nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung. Diese Überprüfung betrifft nicht die sachliche "Richtigkeit" des Entscheidungsergebnisses, sondern vielmehr den Entscheidungsprozess und die Entscheidungsgrundlagen.



    Das Urteil des LG Essen zeigt, wie wichtig es für Aufsichtsratsmitglieder zur Vermeidung einer eigenen Haftung ist, die Entscheidung über die Geltendmachung und insbesondere über die Nichtgeltendmachung möglicher Schadenersatzansprüche der Aktiengesellschaft gegen Vorstandsmitglieder sorgfältig vorzubereiten. Das erfordert insbesondere die Einholung qualifizierten Rechtsrates, die kritische Auseinandersetzung mit diesem sowie eine sorgfältige Abwägung der für und gegen eine klageweise Forderungsdurchsetzung sprechenden Gesichtspunkte. Gerade im Hinblick auf eine mögliche spätere Inanspruchnahme ist zudem auf eine sorgfältige Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen und des Entscheidungsprozesses zu achten.



    Dr. Matthias Schatz

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 1/13

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