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    Rückschlag für Wirecard-Anleger: Sie sollen ihre Schadensersatzansprüche nicht an den Insolvenzverwalter richten können

    Zwar ist noch offen, ob Aktionären Schadenersatzansprüche gegen die Wirecard AG zustehen. Nach einer nicht rechtskräftigen Entscheidung des Landgerichts München I sollen Forderungen, die auf der Aktionärsstellung beruhen, zu denen das Landgericht Schadensersatzansprüche zählt, nicht zur Insolvenztabelle angemeldet werden können; sie würden vielmehr erst ganz am Schluss bei der Verteilung eines etwaigen Überschusses der Insolvenzmasse berücksichtigt. Setzte sich die Sicht des Landgerichts durch, würden die Aktionäre mit ihren Forderungen gegen die Gesellschaft insoweit wohl faktisch leer ausgehen.

    So entschied das Landgericht München I (Urteil vom 23.11.2022, Az. 29 O 7754/21; Berufung anhängig beim OLG München, Az. 5 U 7318/22) über eine Klage der Fondsgesellschaft Union Investment gegen den Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé: Kapitalmarktrechtliche Schadensersatzforderungen der Aktionäre können danach nicht als sog. Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle angemeldet werden (§ 38 Insolvenzordnung - InsO). Sie sollen vielmehr normale Gesellschafteransprüche gem. § 199 S. 2 InsO sein, die erst ganz am Schluss des Insolvenzverfahrens bei der „Schlussverteilung“ berücksichtigt werden, wenn alle Insolvenzforderungen befriedigt sind und es danach noch einen zu verteilenden Überschuss gibt.

    Die klagende Fondsgesellschaft hatte im Kern damit argumentiert, dass sie sich bei ihren Anlageentscheidungen auf Unternehmensmitteilungen und Aussagen des Managements gestützt habe. Die hätten sich im Nachhinein als betrügerisch und irreführend herausgestellt. Wirecard habe Kapitalmarktinformationspflichten vorsätzlich verletzt. Die Pflichtverletzung sei Grundlage für den Kauf ihrer Wirecard-Aktien gewesen. Daraus ergebe sich der Schadensersatzanspruch, meinte die Klägerin: Hätte es die falschen Infos der Wirecard nicht gegeben, hätte sie deren Aktien nicht gekauft, und sie hätte keinen Schaden aufgrund der Investition gehabt. Rechtsgrundlage ihrer Forderung ist der Schadensersatzanspruch wegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB). Zudem stützt sie die Forderung auf die Haftung für falsche und unterlassene Kapitalmarktinformation nach dem Wertpapierhandelsgesetz (§§ 97, 98 WpHG). Daher wollte die Fondsgesellschaft ihren Schaden von € 243 Mio. aufgrund der Pleite der Wirecard zu deren Insolvenztabelle anmelden. Ähnliches taten nach Pressemeldungen ca. 20.000 weitere Anleger mit Forderungen von insg. ca. € 7 Mrd. Der Insolvenzverwalter lehnte die Anmeldung der Fondsgesellschaft ab. Daher kam es zum Rechtsstreit. Der dreht sich ausschließlich um die Frage, ob solche behaupteten Ersatzansprüche der Aktionäre zur Tabelle angemeldet werden können – ob die geschädigten Anleger also Forderungen gegen die Insolvenzmasse haben können. Keine Rolle spielt im Prozess die Frage, ob die Forderungen als solche berechtigt sind.

    Das Landgericht gab dem Insolvenzverwalter Recht und hat die Klage abgewiesen. Denn die geltend gemachten Forderungen seien keine in die Tabelle eintragbaren Insolvenzforderungen. Vielmehr seien kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüchen von Aktionären erst bei der Schlussverteilung der Insolvenzmasse nach der Befriedigung aller anderen Gläubigerforderungen gem. § 199 S. 2 InsO zu berücksichtigen. Das Gericht behandelt die potentiellen Ansprüche wegen der Verletzung von Kapitalmarktpflichten nicht wie Ansprüche von dritten Gläubigern, sondern so wie normale Ansprüche von Aktionären als solchen gegen ihre Aktiengesellschaft; solche mitgliedschaftlichen Rechte begründen nach allgemeiner Meinung keine Insolvenzforderungen; es gilt das Prinzip, Fremdkapital hat Vorrang vor Eigenkapital.

    Vorrangig zu bedienen sind nach der Münchener Entscheidung kreditgebende Banken und Gläubiger von Unternehmensanleihen. Die Insolvenzforderungen im Rang des § 38 InsO belaufen sich nach Pressemeldungen auf ca. € 3,3 Mrd., der Insolvenzverwalter hat durch Verkäufe zumal von der Wirecard gehörenden Unternehmensanteilen erst ca. € 1 Mrd. erlösen können. Daher ist die Wahrscheinlichkeit der Befriedigung der Aktionäre aufgrund eines verbleibenden Überschusses überaus gering.

    Das Echo auf die Münchener Entscheidung ist zwiespältig. Wichtige Stimmen in der Literatur lehnen die nun auch vom Landgericht München I postulierte Einordnung von Anlegerforderungen als normale mitgliedschaftliche Aktionärsforderungen dezidiert ab: Die Effektivität der kapitalmarktrechtlichen Haftung gebiete die Einordnung als Insolvenzforderung. Den Aktionären dürfe das Risiko der irreleitenden Kapitalmarktinformation nicht allein aufgebürdet werden. Zu den Kritikern der Entscheidung gehören renommierte Universitätsprofessoren wie zB Georg Bitter, Moritz Brinkmann, Jens Koch und Alexander Mock. Sie halten (mit Unterschieden im Einzelnen) die Entscheidung für systemwidrig. Denn aufgrund falscher Kapitalmarktinformation geschädigte Anleger werden außerhalb der Insolvenz wie normale Gläubiger behandelt; ihre Position als Mitglieder der Aktiengesellschaft spiele keine Rolle; das müsse auch in der Insolvenz so sein.

    Das Urteil des Landgerichts München ist nicht rechtskräftig geworden. Die Berufung ist anhängig beim Oberlandesgericht München. Angesichts des Gegenwinds gegen das Landgericht München in der Literatur dürften die Aussichten für die Berufung nicht schlecht sein. Das letzte Wort wird auch das Oberlandesgericht nicht sprechen. Die Frage ist juristisch so wichtig und wirtschaftlich so bedeutsam, dass sie eines Tages den Bundesgerichtshof beschäftigen wird. Dieser hat sich mit der Frage bislang nicht beschäftigt. Es gibt aber eine alte Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahr 1916 zum damaligen Konkursrecht zur parallelen Frage der Prospekthaftung (RGZ 88, 271). Das Reichsgericht sah die Rechtslage mit gutem Grund anders als nun das Landgericht München. In der Entscheidung hieß es: „Die Revision macht (…) geltend, dass jedenfalls im Konkurse der Aktiengesellschaft die Aktionäre ihre Schadensersatzansprüche nicht in Gleichberechtigung mit den übrigen Gläubigern erheben könnten. Nirgends im Schrifttum findet sich jedoch eine Bezeichnung der Vorschrift der Konkursordnung, die eine Änderung der Rechtslage für den Konkursfall ergeben könnte. Eine solche Vorschrift besteht nicht.“ Es würde schon überraschen, wenn heute, 107 Jahre später, die deutsche Justiz die Anleger schlechter behandeln würde als seinerzeit das Reichsgericht. Im Übrigen spricht viel dafür, dass alle letzte Gewissheit über die Frage der Einordnung der Forderungen erst der Europäische Gerichtshof EuGH bringen wird. Denn die Kapitalmarkthaftung ist europarechtlich fundiert. Die entsprechenden Vorgaben sind in das nationale Recht effektiv umzusetzen. Ob der deutsche Gesetzgeber das richtig gemacht hat, darüber wacht der EuGH, den die Instanzgerichte wie das Oberlandesgericht bei Zweifeln an der Auslegung des Europarechts anrufen können; der BGH als letztinstanzliches innerstaatliches Gericht muss bei Vorliegen solcher Zweifel vor seiner endgültigen Entscheidung die betreffende Sache dem EuGH vorlegen.

    Dr. Thomas Heidel / Melissa Sinik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin

    In folgendem Newsletter erschienen : Newsletter 6/23

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